Tradition und Fortschritt verbinden
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          4. Evolution oder Revolution? Konsistente und komplementäre Weiterentwicklung des deutschen Sozialmodells
     
      
          Vom radikalen Sozialabbau bis zu sozialistischen Varianten des 
      Wohlfahrtsstaates reichen die Antworten, wenn die Frage nach der Reform 
      des deutschen Sozialstaates aufgeworfen wird. Gemeinsam ist vielen diesen 
      Vorschlägen, dass sie der Komplexität der sozialen Wirklichkeit nicht 
      gerecht werden – es lässt sich zeigen, wie nur in einer komplementären und 
      konsistenten Weiterentwicklung des bestehenden Systems eine Chance liegt, 
      soziale Sicherheit auch in Zukunft zu erreichen (vgl.
     
            3. 
            Schaubild: Evolution oder Revolution).
     
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      4.1 Sozialabbau und Individualisierung der 
      Lebensrisiken 
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  Unter den Bedingungen der Globalisierung ist der klassische Sozialstaat 
  nicht mehr zu finanzieren, die Bürger müssen viel mehr Eigenverantwortung 
  übernehmen. Daher gibt es zum Sozialabbau keine Alternative, weil Deutschland 
  sonst auf den internationalen Märkten nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Greift 
  diese Argumentation nicht zu kurz? Ja, weil soziale Sicherheit genauso ein 
  Standortfaktor ist wie niedrige Löhne oder gute Verkehrsanbindungen. Denn 
  zwischen Flexibilität am Arbeitsmarkt und sozialer Sicherheit besteht ein 
  klarer Zusammenhang wie er im Schlagwort der “Flexicurity” angedeutet wird: 
  Flexibilität und Sicherheit bedingen einander, sie sind zwei Seiten derselben 
  Medaille. Je sicherer das Lebensumfeld eines Menschen ist, desto flexibler 
  kann er auch auf die Erfordernisse moderner Marktwirtschaften reagieren. Eine 
  Gesellschaft braucht Stabilisatoren, so wie ein Auto ein ausgereiftes 
  Sicherheitssystem benötigt, um mit hoher Geschwindigkeit unterwegs zu sein. 
  Mit 200 PS ohne Airbag, ABS und Bremskraftverstärker? Das würde nicht gut 
  gehen! So ist es auch mit der sozialen Sicherheit: Sie fördert Leistung und 
  bremst sie nicht. 
 
  
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      4.2 Ersetzung der sozialen Sicherheit im engeren Sinne durch soziale 
      Sicherheit im weiteren Sinne | 
    
 
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      An die Stelle der fünf Säulen des gegenwärtigen Sozialsystems soll eine 
      Politik treten, die dem Motto folgt: „Sozial ist, was Arbeit schafft“. 
      Zugespitzt formuliert bedeutet das, dass eine vernünftige Bildungspolitik 
      und eine aktivierende Sozialpolitik sowie eine gute Wirtschafts-, 
      Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik ausreichen, um die Bürger sozial 
      abzusichern. Auf soziale Sicherheit im engeren Sinne kann man dann 
      verzichten. Aber auch dieser Denkansatz wird der Komplexität der heutigen 
      Situation nicht gerecht. Sicher, ohne eine gute Politik in den genannten 
      Bereichen lässt sich soziale Sicherheit nicht realisieren. Aber sie 
      ergänzt in erster Linie die soziale Sicherheit im engeren Sinne – und kann 
      die fünf Säulen des bestehenden Systems auf keinen Fall ersetzen. Eine 
      gute Bildungspolitik und eine aktivierende Sozialpolitik sowie eine 
      erfolgreiche Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik sind nicht in 
      der Lage, Vorsorgeleistungen überflüssig zu machen, wie sie zum Beispiel 
      in der Bismarck-Säule üblich sind. Nur in dieser Weise kann es einen 
      umfassenden Schutz gegen allgemeine Lebensrisiken geben – die genannten 
      Politikfelder können dazu zwar einen Beitrag leisten, eine Substitution 
      ist aber undenkbar. 
 
  
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      4.3 Normative Modelle | 
    
 
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     Mit einem Schlag alle Probleme lösen, mit 
      einer Formel einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt bringen – dieser 
      Anspruch liegt oft normativen Entwürfen zugrunde, wenn sie Reformideen zum 
      Sozialstaat entwickeln. Dabei entstehen abstrakte Theorien, die sich nur 
      schwer mit der Wirklichkeit in Einklang bringen lassen. Ein Beispiel ist 
      das Differenz-Prinzip von John Rawls, wonach eine Verteilung im Vergleich 
      zu einer anderen nur besser sein kann, wenn die Position der am 
      schlechtesten Gestellten günstiger ausfällt. Solchen Ideen fehlt in der 
      Regel eine konkrete Ausgestaltung, um Antworten auf tatsächliche Probleme 
      zu geben. Ihnen mangelt es an Komplexität, vergleicht man sie mit den 
      Handlungsmaximen und Prinzipien, wie sie die Grundlage für das bestehende 
      Sozialsystem bilden. Daher scheinen sie nicht geeignet zu sein, eine 
      Orientierung zu geben, wie der Sozialstaat reformiert werden kann. 
 
  
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      4.4 Konkrete Vorbilder (konkretes Utopia) | 
    
 
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    In Skandinavien ist der Sozialstaat 
      vorwiegend steuerfinanziert – ein System, für das besonders linke Kräfte 
      eintreten, die sich an einem altruistischen Menschenbild orientieren. Doch 
      der skandinavische Weg ist stark von der konjunkturellen Entwicklung 
      abhängig: Im Boom lassen sich 
      komfortable Leistungen leicht finanzieren, in der Rezession kann das 
      System ebenso leicht versagen, weil keinerlei Vorsorge getroffen wird. Die 
      Schweiz hat mit ihrer Hinterlassenenversicherung (AHV) ein Modell mit 
      starken Umverteilungswirkungen entwickelt, während in den angelsächsischen 
      Ländern besonders auf den Ausbau der privaten Säulen gesetzt wird. Dabei 
      nimmt man eine Individualisierung der Lebensrisiken in Kauf, ein 
      utilitaristisches Menschenbild liegt diesen Entwicklungen zugrunde. Für 
      kollektive Systeme bleibt dann kein Platz mehr, so der Traum der 
      Neoliberalen. 
  Das deutsche Modell: Es bietet alles, was ein modernes, 
  funktionierendes Sozialsystem braucht. Das deutsche Modell kombiniert einzelne 
  Vorteile des angelsächsischen und skandinavischen Modells, wodurch es beiden 
  Systemen in ihrer reinen Form überlegen ist. So baut der deutsche Sozialstaat 
  auf zwei kollektiven Sicherheitsnetzen auf, der Beveridge- und der 
  Bismarck-Säule. Sie sichern Existenzminimum und Lebensstandard. Hinzu kommen 
  freiwillige, zum Teil konjunkturunabhängige Ressourcen, die über die drei 
  privaten Säulen gesichert werden. Dabei zeichnet das deutsche Sozialsystem ein 
  „dynamischer Immobilismus“ (Stephan Lessenich) aus: Kontinuität, Stabilität 
  und Strukturkonstanz sind ebenso seine Eigenschaften wie Flexibilität, Dynamik 
  und Wandel.   
  Vor diesem Hintergrund haben sich zwei Kulturen herausgebildet, 
  die ihren Ausdruck in verschiedenen Handlungsmaximen finden: auf der einen 
  Seite die Kultur der Solidarität, auf der anderen Seite die Kultur der 
  Selbständigkeit. Diese Kulturen werden der 
  Komplexität moderner Gesellschaften gerecht, sie zeichnen sich durch 
  vielschichtige Lösungsansätze aus: Zuerst lassen sich Handlungsmaximen als 
  normative Vorgaben formulieren, die in Form von unterschiedlichen Leitlinien, 
  Zielen und (Gestaltungs)Prinzipien grundsätzlichen Einfluss auf die 
  Ausgestaltung des Sozialsystems nehmen. Zum Beispiel ist die Kultur der 
  Solidarität u.a. geprägt durch die abendländische Tradition der christlichen 
  Nächstenliebe. Unter Handlungsstrategien sind Möglichkeiten des Handelns zu 
  verstehen, die noch keine konkrete Form angenommen haben. Zum Beispiel lässt 
  sich die Beveridge-Säule in die Kultur der Solidarität einordnen, diese 
  Handlungsstrategie besteht aus unterschiedlichen Umverteilungsmechanismen, die 
  sich aus Steuergeld speisen. Diese Strategien geben den Weg vor, der 
  beschritten werden muss, um durch Handlungsinstrumente in das soziale Gefüge 
  der Gesellschaft einzugreifen. Handlungsinstrumente sind demnach die 
  praktische Umsetzung von Ideen, wie sie in den Handlungsmaximen formuliert 
  werden. So gibt es in der Beveridge-Säule eine Reihe von 
  Handlungsinstrumenten, zum Beispiel das BAFÖG, die Grundsicherung für 
  Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II) oder die Grundsicherung im Alter und bei 
  Erwerbsminderung, die Sozialhilfe. 
 
  
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      4.5 Evolution statt Revolution. Konsistente und komplementäre 
        Weiterentwicklung des deutschen Sozialmodells ist die adäquate Strategie | 
    
 
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 Das Potential für eine vernünftige Entwicklung ist vorhanden, doch bisher 
 kommt es zu einer Vermischung von Handlungsmaximen, wodurch eine 
 unübersichtliche Komplexität im Sozialsystem entsteht. So wird in der Bismarck- 
 und der Beveridge-Säule nicht ausreichend zwischen Vorsorge und Fürsorge 
 unterschieden. Bei der Diskussion um den skandinavischen, alpinen oder 
 angelsächsischen Weg geht völlig unter, wie sich das deutsche Sozialmodell 
 entwickeln könnte: In allen fünf Säulen wurden nämlich Handlungsstrategien 
 realisiert, die sich ergänzen und stabilisieren. Auf keine dieser Strategien 
 kann verzichtet werden, wenn die sozialen Risiken in der Gesellschaft breit 
 gestreut bleiben sollen. Dabei ist es jetzt wichtig, konsistente 
 Handlungsmaximen zu formulieren, die alle Säulen in eine komplementäre 
 Wechselwirkung treten lassen. Die Kulturen der Solidarität und Selbständigkeit 
 müssen gemeinsam erhalten bleiben, in ihrem gegenseitigen Ausgleich liegt die 
 Stärke des deutschen Sozialmodells – Wandel in der Kontinuität wird auf diese 
 Weise möglich. 
   
 
  
    
  
 
 
  
 
 
 
 
 
 
 
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