Tradition und Fortschritt verbinden
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2. Kapitel: Die fünf Säulen des deutschen Sozialsystems
1. Schaubild: Die fünf Säulen des deutschen
Sozialmodells Die Deutschen würden wie Buridans Esel im Entscheidungsdilemma verhungern,
weil sie sich nicht entscheiden können zwischen dem Heuhaufen im Westen und dem
Heuhaufen im Norden dem angelsächsischen und dem skandinavischen Sozialmodell,
so sinngemäß Kolja Rudzio und Wolfgang Uchatius in DIE ZEIT vom 25. Mai 2005.
Doch sie irren sich. Der „deutsche Esel“ verhungert, weil er mit dem Kopf über
den Wolken die 5 Heuhaufen vor den eigenen Füßen nicht sieht. „Warum in die
Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?“ wusste schon Goethe.
Nachdem bis ins 18. Jahrhundert allein die Familie ein Garant sozialer
Sicherheit war, kam es im Laufe der Industrialisierung zu einer
gesellschaftlichen Differenzierung, als deren Folge die sozialen
Sicherungssysteme entstanden, wie wir sie heute kennen. Zurückgeführt auf die jeweiligen Handlungsmaximen (Leitbilder,
Prinzipien und Ziele) sowie Handlungsstrategien und -instrumente
lässt sich das Gebäude der sozialen Sicherheit in Deutschland in
fünf Säulen darstellen, zwei davon haben einen
kollektiv-staatlichen Charakter, drei sind privater Natur.
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2.1 Die Beveridge-Säule |
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Die Beveridge-Säule, nach dem englischen Sozialpolitiker William
Beveridge benannt, ist die Weiterführung des Almosen- und
Wohltätigkeitsgedankens hin zu sozialen Rechten. Sie wird aus Steuermitteln
(Angaben für 2001)
finanziert und besteht in Deutschland aus:
- Entschädigungsleistungen 6,1 Mrd. € (Soziale
Entschädigung, Lastenausgleich, Wiedergutmachung);
- Förder- und
Fürsorgesystemen 54,4 Mrd. € (Sozialhilfe, Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung, Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 Grundsicherung
für Arbeitssuchende
(Arbeitslosengeld II), Jugendhilfe, Kinder-, Erziehungs-
und Wohnungsgeld, Ausbildungs- und Vermögensbildungsförderung);
- Rentenversicherung mit 79 Mrd. €,d.h.
79
Mrd. € wurde für die Subventionierung bzw. Unterstützung von Nicht-Bedürftigen
ausgegeben im Vergleich zu 78,1 Mrd. € für Bedürftige,
insgesamt 157,2 Mrd € aus Steuermitteln.
Dieser Säule der Sozialpolitik liegen unterschiedliche
Handlungsmaximen (Leitbilder, Ziele und Prinzipien) zugrunde:
- Leitbilder: Christliche Nächstenliebe, Solidarität, das
Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes.
- Ziele: Im Zentrum
staatlichen Handelns steht die Fürsorge für Bedürftige, Bekämpfung von Armut
ex post, Existenzsicherung,
relative Gleichheit, soziale Teilhabe und medizinische
Versorgung.
- (Gestaltungs)Prinzipien: Das Solidar- bzw.
Umverteilungsprinzip garantiert, das bedürftige
Menschen von reichen unterstützt werden. Nach dem
Subsidiaritätsprinzip muss ein Bürger erst alle
eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, um seine Notlage zu
beheben. Liegt Bedürftigkeit vor, ist dem Bürger
nach dem Finalprinzip zu helfen, unabhängig von der Frage, ob
eigenes Verschulden vorliegt oder ob er genügend vorgesorgt hat.
2.2 Bismarck-Säule |
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Die moderne Zwangsversicherung wurde schon 1845 in der
preußischen Gewerbeordnung eingeführt, der zufolge alle
Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen von Krankheit
abgesichert werden mussten.
In den 80 Jahren des 19. Jahrhunderts schuf Bismarck die
Grundlage für das moderne Sozialversicherungssystem:
Sein Krankenversicherungs-, Unfallversicherungs-
sowie Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz
sollte den sozialen Frieden in Deutschland sichern. 1927 kam
dann die staatliche Arbeitslosenversicherung dazu –
und den letzten Baustein stellt die Pflegeversicherung
dar, die es seit 1995 gibt.
Das Sozialversicherungssystem finanziert sich überwiegend
(ca. 2/3) aus
(Zwangs)Beiträgen und Steuergeldern (1/3) dient der
Absicherung allgemeiner Lebensrisiken (Armut und Krankheit). 2003 wurden im
deutschen Sozialversicherungssystem Leistungen
im Wert von ca. 500 Mrd. € erbracht, darunter:
- In der Rentenversicherung für Arbeiter waren es
120 Mrd. €,
- Rentenversicherung für Angestellte 117,3
Mrd. €.
- Die knappschaftliche (Bergleute) Rentenversicherung
kam auf 14,9 Mrd. €.
- Krankenversicherung lagen die Leistungen bei
144,2 Mrd. €,
- Pflegeversicherung wurden 17,4 Mrd. €
ausgegeben,
- Unfallversicherung hatte Ausgaben in Höhe von
11,5 Mrd. €.
- Unter der Position Arbeitsförderung verbucht
die amtliche Statistik 73,8 Mrd. €.
- Sondersysteme: Die Alterssicherung für
Landwirte kostete 3,3 Mrd. €, und die
Versorgungswerke kamen auf 2,5 Mrd. €.
- In die Leistungssysteme des öffentlichen Dienstes
flossen für Pensionen 35,8 Mrd. €, für
Familienzuschläge 7 Mrd. € und für die Beihilfe
9,9 Mrd. €.
Im Gegensatz zur Beveridge-Säule mit ihrer
Fürsorgefunktion gilt für die Bismarck-Säule der
Vorsorgegedanke - und damit das Äquivalenzprinzip. Die
Höhe des Leistungsanspruchs ist davon abhängig, wie viel
der Einzelne an Vorsorge geleistet hat, was besonders für
die Renten- und Arbeitslosenversicherung gilt. Damit rückt
als Leitbild die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit
des Individuums in den Mittelpunkt. Die Ziele sind
: Vorsorge, Armutsvermeidung ex ante, Lebensstandardsicherung,
Chancengleichheit ex ante, nachhaltiger Sozialstaat und medizinische Versorgung.
Folgende (Gestaltungs)Prinzipien: Versicherungsprinzip,
Kausalprinzip, individuelle, je nach Schaden und Vorsorge, Leistungs-
bzw. Äquivalenzprinzip, Kapitaldeckungsverfahren. Es werden aber auch
Handlungsmaximen verfolgt, wie sie oben in der Beveridge-Säule
beschrieben wurden, daher auch die Steuergelder.
Um dieses Leitbild in der Realität umzusetzen, verfolgt
der Staat unterschiedliche Strategien. Fast die gesamte
Bevölkerung ist in der staatlichen Unfallversicherung
versichert, 2001 waren es 75,5 Millionen Menschen.
Etwa 90% der Bevölkerung haben eine gesetzliche Krankenversicherung.
2002 waren 28,8 Millionen Arbeitnehmer und 16,2
Millionen Rentner pflichtversichert, 5,9 Millionen Menschen
kamen hinzu, die eine freiwillige Krankenversicherung
hatten. 2003 waren 188.000 nicht krankenversichert, 1995
105.000, die Tendenz geht eindeutig nach oben
Die Rentenversicherung ist der größte Zweig im
gesetzlichen Versicherungssystem. 2001 hatte die
Rentenversicherung 50,8 Millionen Pflichtmitglieder und
einen Rentenbestand von 23,1 Millionen. Die Rentenausgaben
betrugen 195,8 Mrd. €.
In der Arbeitslosenversicherung
entsteht immer eine Pflichtmitgliedschaft, wenn ein Bürger
gegen Entgelt tätig wird - unabhängig von seiner Höhe (§
25 SGB III). Leistungen der Arbeitslosenversicherung sind
das Arbeitslosengeld, außerdem übernimmt die
Bundesagentur für Arbeit die Beiträge für die Kranken- und
Rentenversicherung.
Schließlich gibt es noch die
Pflegeversicherung: In sie werden fast alle Teile der
Bevölkerung einbezogen, 2003 waren ca. 70,6 Millionen
Menschen Mitglied in der sozialen Pflegeversicherung, und
8,6 Millionen Bürger hatten sich in einer privaten
Pflege-Pflichtversicherung gegen das Risiko der
Pflegebedürftigkeit abgesichert.
2.3 Private Vorsorge Säule |
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Die Anfänge der gesetzlichen Sozialversicherung mit
Zwangscharakter gehen in das 19. Jahrhundert zurück - das
Prinzip der Versicherung ist aber in der Geschichte schon
sehr viel länger bekannt. Erste Hinweise auf Vorläufer einer
modernen Haftpflichtversicherung finden sich im "Codex Hamurabi", 1792-1750 v. Chr. Heute orientieren sich private
Versicherungen streng an der "versicherungstechnischen
Individualäquivalenz", das heißt, die Höhe ihrer Prämien
steht in einem direkten Verhältnis zum möglichen Schaden,
der eintreten könnte.
Die freiwillige, private Vorsorge bildet eine
Reserve, die auch für die Rücklage für das Alter benutzt
wird. Ein Überblick soll eine Vorstellung von dieser Säule
vermitteln. Die Private Vorsorgesäule setzt sich zusammen
aus freiwilligen Beiträgen und besteht aus
(Zahlenangaben von 2003):
- privaten Versicherungen Brutto-Beiträge von insgesamt 153,5 Mrd. €
(Lebensversicherungen 67,2 Mrd. €, für Pensions- und Sterbekassen 3,3 Mrd. €, für Krankenversicherungen
24,7 Mrd. €, für Schaden- und Unfallversicherungen 58,1 Mrd. €). Die Kapitaleinlagen im
Versicherungsbereich beliefen sich in diesem Jahr auf insgesamt 892,8
Mrd. €, für Lebensversicherungen 609,3 Mrd. €, für Pensions-
und Sterbekassen 77 Mrd. €, für Krankenversicherungen 97,8 Mrd. €, für
Schaden- und Unfallversicherungen 108,6 Mrd. €.
- privaten Spareinlagen ohne Bauspareinlagen 600,3 Mrd.
€;
- private Vermögen (Aktien, Immobilien, Wertgegenstände etc.).
Handlungsmaximen: Der privaten Vorsorge-Säule liegt dasselbe Leitbild
zugrunde, wie wir es für die Bismarck-Säule bereits
skizziert haben. Es geht um Eigenverantwortung und
Selbstständigkeit des Individuums. Damit liegt auch das
gleiche Ziel vor: Der Lebensstandard soll in
Krisensituationen gesichert werden, und zwar auf dem Weg der
eigenverantwortlichen Vorsorge. Als Gestaltungsprinzipien
lassen sich wie in der Bismarck-Säule das Versicherungs- und
Äquivalenzprinzip erkennen. Doch einen entscheidenden
Unterschied gibt es: Die Bismarck-Säule hat einen
Zwangscharakter, es handelt sich um Pflichtversicherungen.
Bei den privaten Versicherungen gilt aber das Prinzip der
Freiwilligkeit.
Handlungsstrategien:
Damit diese Solidargemeinschaften funktionieren, wählen
private Versicherungen unterschiedliche Strategien, je nach
dem wie das abzusichernde Risiko beschaffen ist. So gibt es
die klassische Lebensversicherung, die als Versicherungsfall
den Tod des Versicherten abdeckt, bzw. eine
Versicherungssumme auszahlt, wenn ein bestimmtes Alter
erreicht wird. Oder die private Krankenversicherung, die
auch „substitutive Krankenversicherung“ heißt, weil sie ganz
oder teilweise Leistungen gewährt, die an die Stelle der
gesetzlichen Krankenversicherung treten.
Das staatliche Versicherungsprinzip unterscheidet
sich grundlegend vom privaten Versicherungsprinzip.
Während sich im Fall der privaten Versicherungen die
Prämienhöhe an "Risikoausgleichskalkülen nach dem Prinzip
der versicherungstechnischen Individualäquivalenz" (Lampert
/ Althammer 2004: 237) orientiert, gilt in der
Sozialversicherung der Grundsatz der Solidarität: "Die
Beiträge in der Sozialversicherung sind nicht an
individuellen Risikowahrscheinlichkeiten orientiert (...)
und auch die Versicherungsleistungen sind nicht streng
beitragsorientiert" (Lampert / Althammer 2004: 237). Eine
Folge des Solidaritätsgedankens ist es, dass die
Sozialversicherung im Gegensatz zur privaten Versicherung
weder Risiko- noch Leistungsausschlüsse kennt. Damit schützt
sie besonders Menschen, die ein hohes Risiko aufweisen,
durch Krankheit oder andere Lebensumstände in
wirtschaftliche Not zu geraten. "Trotz ihrer Orientierung am
versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip produzieren die
Privatversicherungen sozialpolitisch positive Effekte."
(Lampert / Althammer 2004: 237) Denn die Versicherten müssen
sich jetzt weniger Sorgen machen, in wirtschaftliche Not zu
geraten, wenn sie von einem Risiko wie Krankheit oder Unfall
betroffen sind. Dadurch entsteht ökonomische Stabilität.
Außerdem ist es für das Individuum nicht immer notwendig,
durch persönliche Vermögensbildung Risikovorsorge zu
treffen, weil ein Schadensfall von der gesamten Gemeinschaft
der Versicherten finanziell getragen wird.
2.4 Bürger- bzw.
zivilgesellschaftliche Säule |
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Die Bürger- bzw. Zivilgesellschaft stellt einen
öffentlichen Raum dar, der zwischen der staatlichen und rein
privaten Sphäre angesiedelt ist. In diesem Raum kann eine Vielzahl
rechtlich selbstständiger Organisationen und Initiativen tätig
werden, deren Akteure individuelle und kollektive Freiheitsrechte
genießen. Sie können zum Beispiel einen Verein ins Leben rufen.
Darunter versteht man eine Gruppe, die sich für eine gewisse Dauer
zusammenschließt und einen eigenen Namen führt, um ein durch
Satzung festgelegtes Interesse gemeinsam zu verfolgen.
Schon im Mittelalter schließen sich Menschen zusammen, um
gemeinsame Interessen zu verfolgen. Die Mitgliedschaft in solchen
Korporationen war aber nicht freiwillig - so gab es in
handwerklichen Zünften nur Pflichtmitgliedschaften (Zunftzwang).
Mit der Industrialisierung kam dann ein neuer Organisationstyp auf
- der Verein. Zunächst entwickelten sich Lesevereine, dann
bildeten sich Bildungs-, Gesangs- und Turnvereine. In den 40er
Jahren des 19. Jahrhunderts wurden schließlich die ersten
Arbeitervereine gegründet, um die sozialen Verhältnisse zu
verbessern. Vereinen ist gemeinsam, dass sie auf demokratische
Strukturen Wert legen: Rechenschaftsberichte sind üblich, ebenso
Satzungen, Vorstandswahlen und gemeinsame Beschlüsse. Auf ein noch längere Tradition als die Vereine kann in
Deutschland das Stiftungswesen zurückblicken: Es gibt heute
Stiftungen, deren Wurzeln im 10. Jahrhundert liegen. Im frühen
Mittelalter kamen die ersten karitativen Stiftungen auf, sie
entstanden im kirchlichen Umfeld. Allein 2004 wurden 852 neue
Stiftungen bürgerlichen Rechts gegründet.
Die bürger- bzw. zivilgesellschaftliche Säule enthält die in der Regel
ehrenamtlich
erbrachten Leistungen von:
- Vereinen (594.277 im Jahr 2005), An erster Stelle stehen dabei die
Sportvereine, gefolgt von Vereinen zur Freizeitgestaltung und
Heimatpflege. Auch wenn diese Gruppen nicht in erster Linie einen sozialen
Zweck verfolgen, so erfüllen sie doch immer eine wichtige soziale
Funktion;
- Stiftungen, ca. 13000 im Jahr 2005, 31 % mit Schwerpunkt im
sozialen Bereich (Soziale Dienste, Jugend- und Altenhilfe, Wohlfahrtswesen
und andere mildtätige Zwecke);
- Andere: auch nicht eingetragene Vereine, Klubs,
gGmbH (gemeinützige
Unternehmungen), Genossenschaften. Aber auch Gewerkschaften und
Parteien
erfüllen soziale Aufgaben.
Es liegt keine quantitative Erfassung der
ehrenamtlichen Arbeit von Millionen Menschen vor, die sich im sozialen Bereich engagieren.
Eine
Untersuchung aus dem Jahr 1999 zeigt ebenfalls, wie sehr
ehrenamtliches Engagement in der Bevölkerung verankert ist: 34%
aller Bürger ab 14 Jahren arbeiten freiwillig in einem Verein,
einem Projekt oder einer Initiative mit. Allgemein gilt: In der zivilgesellschaftlichen Säule
spiegeln sich Aufgaben und Ideen der Beveridge-Säule - nur ihre
Umsetzung erfolgt auf freiwilliger Basis und ohne staatliche
Zwangsmaßnahmen.
Handlungsmaximen: Dabei spielen sehr unterschiedliche Leitbilder
eine Rolle: Religiöse, humanitäre oder politische Motive bewegen
die Menschen, sich sozial zu engagieren. Das gemeinsame Ziel
besteht immer in der Fürsorge für andere Menschen, bzw. in der
Hilfe zur Selbsthilfe. Das Gestaltungsprinzip dieser Aktivitäten
ist der freiwillige Zusammenschluss.
Die Handlungsinstrumente sind so vielfältig wie die
Erscheinungsformen der modernen Zivilgesellschaft. Da gibt es eine
fast unendliche Zahl lokaler Initiativen, wie zum Beispiel die
"Aktive Bürger Vertretung" in Köln - ein Verein, der seine
Mitglieder bei Wohnungsangelegenheiten, Behördenproblemen oder
Krankheitsfällen unterstützt. In solchen Initiativen engagieren
sich viele Menschen vor Ort und setzen sich für eine bessere
Gestaltung ihres sozialen Umfeldes ein. Neben diesen
überschaubaren Aktivitäten haben sich auch große Organisationen
etabliert: So umfasst das „Diakonische Werk“ 27.000
selbstständige Einrichtungen mit mehr als einer Million
Betreuungsplätzen - 450.000 Mitarbeiter in Voll- oder
Teilzeitbeschäftigung sind dort tätig. Außerdem gibt es 3.600
diakonische Selbsthilfe- und Helfergruppen, rund 400.000 Menschen
engagieren sich ehrenamtlich für die Diakonie.
"Caritas": Dieser katholische Wohlfahrtsverband betreibt
in Deutschland über 25.000 Einrichtungen im Bereich der
Gesundheits-, Jugend-, Familien-, Alten- und Behindertenhilfe.
Außerdem stellt er Hilfen in sozialen Notlagen bereit, organisiert
Helfer- und Selbsthilfegruppen und ist in der Aus- und Fortbildung
tätig. Für diese Aufgaben beschäftigt der Verband knapp 500.000
Mitarbeiter. Weitere 500.000 Menschen sind ehrenamtlich für die
"Caritas" aktiv, in deren Einrichtungen jährlich über 9,7
Millionen Menschen betreut, gepflegt oder beraten werden.
Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) weist einen völlig anderen
gesellschaftlichen Hintergrund auf. Sie wurde 1919 als
"Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt in der SPD" ins Leben
gerufen. Die Arbeiterwohlfahrt wird bundesweit getragen von:
430.000 Mitgliedern, 100.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen
(Helfer/-innen), 146.000 hauptamtlichen Mitarbeiter/-innen, 4.500
Zivildienstleistenden.
Ein Problem entsteht dabei, wenn private Organisationen
hoheitliche Aufgaben vom Staat übernehmen – und auf dessen
Finanzierung angewiesen sind. Dann kommt es zu Abhängigkeiten, und
die staatliche Kontrolle freiwilliger Aktivitäten kann Überhand
nehmen.
2.5 Familien-Säule |
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Die Familien-Säule enthält die in der Regel
unbezahlten Leistungen, die von Familien erbracht werden. Die Leistungen der
Familie werden von den einen auf mehr als die Hälfte des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt (Franz Xaver Kaufmann), von anderen
(Carsten Stahmer, Ingo Mecke, Inge Herrchen) auf ca. 11,5 Prozent des BIP.
Das waren für das Jahr 2001 zwischen 228 und 990 Mrd. €. Diese Unterschiede
ergeben sich dadurch, dass die unbezahlte Arbeit bzw. Zeit unterschiedlich
hoch angesetzt und auch bewertet wird.
Die vorindustrielle Familie lässt sich als Produktionsgemeinschaft
charakterisieren, wobei Arbeits- und Wohnstätte in der vorherrschenden
Agrarwirtschaft eine Einheit bildeten. Man spricht in diesem Zusammenhang
vom "ganzen Haus". Die Industrialisierung mit ihrem enormen technischen
und wirtschaftlichen Fortschritt führte dann zu einer generellen Trennung
von Arbeits- und Lebenswelt - eine zunehmende Differenzierung zwischen
öffentlichem und privatem Leben war die Folge. Die alte Haus- und
Produktionsgemeinschaft zerfiel, an ihre Stelle trat ein Familienverband,
der nur noch aus der blutsverwandten Kernfamilie bestand. Zu dieser Zeit
entwickelten sich das Vereinswesen und die Anfänge der
Sozialversicherung: Beide gesellschaftlichen Organisationsformen
übernahmen Funktionen, die ursprünglich in der alten Haus- und
Produktionsgemeinschaft angesiedelt waren. Fürsorge und Vorsorge wurden
gesellschaftlich organisiert - nach Habermas tritt eine "Systemwelt" der
"Lebenswelt" gegenüber. Damit ist ein Funktionsverlust der Familie
verbunden, der bis heute anhält.
Dennoch bleiben der Familie vielfältige Aufgaben: Der Haushalt muss
organisiert werden, Kinder sind zu erziehen (Sozialisation). Im
Mehrgenerationenverbund übernehmen Großeltern die Betreuung ihre
Enkelkinder. Kranke Familienmitglieder werden von ihren Angehörigen
gepflegt, viele chronisch Kranke sowie körperlich und geistige behinderte
Menschen werden zu Hause versorgt. Auch bei einem Unfall oder Todesfall,
greifen Angehörige den Betroffenen unter die Arme - ebenso bei
Trennungen, Scheidungen oder Arbeitslosigkeit. Dann gibt es Leistungen
für die Öffentlichkeit: Mit der sozialen Umwelt sind Familien über ihre
Angehörigen in vielfacher Weise verbunden. Allgemein beteiligen sich
Familienangehörige am sozio-kulturellen Leben in den Kommunen.
Schließlich ist noch die wichtige Reproduktionsfunktion zu erwähnen: Ohne
Kinder würde das Sozialversicherungssystem zusammenbrechen, da künftige
Beitragszahler fehlen.
In der Statistik werden unterschiedliche Wege eingeschlagen, um für die
Leistungen der Familie einen monetären Gegenwert zu ermitteln. So schätzt
Franz Xaver Kaufmann diesen Betrag auf mehr als die Hälfte des
Bruttoinlandsproduktes (BIP), andere kommen auf 11,5 Prozent des BIP
(Carsten Stahmer, Ingo Mecke, Inge Herrchen). Das wären für 2001 zwischen
228 und 990 Milliarden Euro - der Unterschied ergibt sich dadurch, dass
die unbezahlte Familienarbeit monetär verschieden bewertet wird.
Handlungsmaximen: Das Leitbild der privaten Vorsorge-Säule und der Bismarck-Säule hat auch
seine Gültigkeit für die Familien-Säule. Denn hier geht es auch um
Eigenverantwortung und Selbstständigkeit des Individuums - aber im
Familienzusammenhang. Ebenfalls von Bedeutung ist das Leitbild der
Beveridge-Säule, da neben der eigenverantwortlichen Vorsorge auch die
Fürsorge für Familienmitglieder eine wichtige Rolle spielt. Genau
genommen lassen sich diese Leitbilder in der Familien-Säule nicht
ausdifferenzieren, jedes von ihnen tritt gleichzeitig in Erscheinung und
bestimmt das Handeln der Menschen im Familienverband. Das Ziel der
Familie ist es, generationsübergreifend für eine soziale Absicherung zu
sorgen. Als Gestaltungsprinzipien lassen sich im übertragenen Sinne das
Versicherungs- und Äquivalenzprinzip erkennen.
Handlungsstrategien:
Alle Formen der menschlichen Zuwendung können im Familienzusammenhang als
Strategie bezeichnet werden, um die oben genannten Aufgaben zu erfüllen.
Außerdem war es bis zum Beginn der Industrialisierung in Europa sinnvoll,
durch eine hohe Zahl von Kindern den Lebensstandard einer Familie zu
sichern. Diese Strategie wandelte sich, als der zivilisatorische
Fortschritt bessere Lebensbedingungen mit sich brachte. Die
Säuglingssterblichkeit ging stark zurück, also mussten weniger Kinder
geboren werden. In Deutschland ist im Zuge dieser Entwicklung die
Fertilität deutlich zurückgegangen. Dabei sollte sie die Sterblichkeit in
einem Land übersteigen, damit eine neue Generation die alte vollständig
ablösen kann. Dies geschieht in Deutschland seit dem 70er Jahren des
letzten Jahrhunderts nicht mehr: Im Durchschnitt kommen heute pro Frau
1,4 Kinder zur Welt, eigentlich müssten es 2,1 Kinder sein, damit die
Bevölkerung sich vollständig regeneriert.
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